„Demokratie muss man üben“

Ideen, Anregungen und Diskussionsstoff / Merseburger Bündnis gegen Rechts macht sich auf den Weg

Am 10. Mai 2012 war es endlich soweit. Im Rahmen einer Podiumsveranstaltung gründete sich im Kunsthaus Tiefer Keller offiziell das Merseburger Bündnis gegen Rechts. Etwa 70 Gäste und UnterstützerInnen nahmen teil. Auf dem Podium diskutierten Dr. Barbara Kaaden (Bürgermeisterin Merseburg), Dr. Albrecht Schröter (Oberbürgermeister Jena),  Thomas Aust (Leiter Kriminalpolizei im Polizeirevier Saalekreis) und Sebastian Striegel (MdL und Bündnismitglied) zu geeignetem Umgang mit rechten Tendenzen vor Ort.

„Das Engagement der Vielen hat uns bis heute getragen“, resümierte Sebastian Striegel in seinen Begrüßungsworten und verwies auf die Hintergründe, die zur Gründung dieses Bündnisses führten. Den Impuls gaben die Proteste gegen den Neonaziaufmarsch im Juni 2011, deren Planung im Vorjahr erst durch die „Initiative Alternatives Merseburg“ angestoßen wurde. Aber auch hohe Zustimmungswerte zu fremdenfeindlichen Positionen, die jüngsten Ereignisse um die rassistisch motivierte Vertreibung eines Imbissbesitzers in Mücheln, ein schwerer Überfall einer Gruppe Neonazis auf Alternative im April 2010 in Merseburg oder die wiederholten Schändungen der Stele für die von Nazis deportierten und ermordeten Merseburger Sinti und Roma und drei Todesopfer rechter Täter auf dem Gebiet des heutigen Saalekreis zwischen 1993 und 2001 sind dem Bündnis Auftrag und Verantwortung, aktiv gegen rechte Tendenzen einzustehen.

Als Podiumsgast umriss Jenas Oberbürgermeister Dr. Albrecht Schröter seine Motivation, sich in die Thematik einzubringen. OB Schröter sorgt mit seinem energischen Einsatz gegen Rechts überregional für Aufsehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar – dieser Leitgedanke ist für ihn Grundpfeiler für Handlungen und Engagement gegen Rechts, gegen Diskriminierung, Verachtung und andere Tendenzen, bei denen die Menschenwürde mit Füßen getreten werde. Sein Großvater wurde gegen Kriegsende als Reservist „sinnlos verheizt“ wie Schröter ganz persönlich anmerkte: „Wir haben eine Verantwortung gerade als Deutsche aus der Geschichte zu lernen.“ Die Aufgabe, über regionale und gesellschaftliche Grenzen hinweg einander Mut zu machen wollte Schröter vermittelt wissen und fügte anerkennend an: „Den Mut, den ich habe, verdanke ich meinen Bürgerinnen und Bürgern.“

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Schröter stellte klar, auch ein Praktiker auf dem Gebiet zu sein. Er rufe nicht zu Straftaten auf, wenn er meine, es gäbe eben auch Situationen, die es nötig machen, sich über „ordnende Dinge“ hinwegzusetzen. „Wenn es eine Basis unseres Grundgesetztes gab, dann war das ‚Nie wieder Faschismus‘“, so Schröter, für den sich daraus ableite, dass es in einer Demokratie nicht nur erlaubt, sondern geboten – „geradezu eine Pflicht“ – sei, gegen rechte und neonazistische Meinungen aktiv zu werden. Die Rechten sollen an Grenzen stoßen und das täten sie auch immer mehr. Vor allem, da mittlerweile immer mehr Menschen aus der Mitte der Bevölkerung, gegen rechte Meinungen Flagge zeigen.

Auch angesichts von Straftaten unterschiedlicher politischer Motivation war für den thüringischen Oberbürgermeister klar, „die wirklich schweren Straftaten liegen eindeutig im rechten Bereich … da gibt es keine Gleichmacherei.“ Das NSU-Trio habe ihm gezeigt, keine Stadt ist vor solchen Auswüchsen gefeit. Auch Jena ist sinnbildlich „ein buntes Tuch, das auch braune Flecken hat – wie jede andere Stadt.“ Die Jenaer Entwicklungen reflektierend, berichtete Albrecht Schröter von der zunehmenden Dynamik vor Ort,  seitdem 2005 erstmals die Neonazi-Veranstaltung „Fest der Völker“ stattfand. Der anfangs verwaltungslastige runde Tisch habe sich über die Jahre zu einem echten Bürgerbündnis entwickelt, was vor allem eine größere Themenvielfalt mit sich brachte. Und Schröter betonte, das brachte zwar auch oft Spannungen mit sich, aber man könne letztlich eben auch viel voneinander lernen – davor solle man keine Angst haben.

Als Schröter die überregionale Kampagne „Kommunen gegen Rechtsextremismus“ ins Leben gerufen hatte, um Verwaltungsspitzen zu vernetzen, war seine Maßgabe, die kommunalen VertreterInnen sollten im Doppelpack mit VertreterInnen lokaler zivilgesellschaftlicher Initiativen zur anberaumten Tagung kommen. Der häufig vorhandenen Skepsis von Verwaltungen gegenüber AkteurInnen der örtlichen Zivilgesellschaft wollte er damit aktiv etwas entgegensetzen. Mit einem Austausch über unterschiedliches Rollenverständnis wurden dabei für viele Beteiligte Befindlichkeiten ab- und Vertrauen aufgebaut. Sie habe „jedes der Worte aufgesogen“, hat Dr. Barbara Kaaden später auf dem Podium zugeben und kündigte an, sich diese Kampagne auf die eigene Agenda zu setzen.

Thomas Aust als Leiter der Kriminalpolizei im Landkreis wollte den Umstand mehr gewürdigt wissen, dass der Saalekreis aus polizeilicher Sicht einer der sichersten im Bundesland sei. Die Behörde habe eine hohe Aufklärungsquote vorzuweisen und das Straftatenaufkommen werde im Allgemeinen von Eigentumsdelikten dominiert. Nur 1,6 Prozent der gesamten Straftaten sind politisch motiviert – 190 Delikte im Jahr 2011, 80 Prozent davon waren rechtsmotiviert, wovon mindestens die Hälfte als Propagandadelikte in der Statistik eingingen. Sieben rechtsmotivierte Gewaltdelikte seien 2011 im Saalekreis polizeibekannt geworden.

Dass es für politisch motivierte Straftaten einen eigenen Arbeitsbereich gäbe (polizeilicher Staatsschutz), zeige die Relevanz des Themas für die Polizei, so Aust.
Örtliche Schwerpunkte machte der Polizeibeamte im Saalekreis anhand polizeibekannter Delikte in Merseburg und Querfurt aus. Aber „auch Mücheln ist mit 18 Straftaten an der Spitze dabei“, so Thomas Aust. Die rechte Szene im Landkreis summiere sich aus polizeilicher Sicht auf etwa 60 Personen und sei wenig parteigebunden, eher subkulturell geprägt. 20-30 Personen würden in Merseburg und 10-15 in Querfurt ansässig sein, so der Leiter der Kriminalpolizei. Zur Videobeobachtung und erhöhte Streifendichte im Bereich der Gedenkstele für die ermordeten Sinti und Roma an der Neumarktskirche musste Aust einräumen, dass die Maßnahmen nicht so erfolgreich sind wie man es sich erhofft hätte. Dass der Saalekreis im Bereich der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Süd der Landkreis mit dem höchsten Aufkommen rechtsmotivierter Delikte ist, fand keine Erwähnung in Aust`s Ausführungen.

„Das war mir richtig peinlich“, gestand Bürgermeisterin Dr. Barbara Kaaden in ihrer persönlichen Rückschau ein, als SchülerInnen sie einst informiert hatten, was in puncto Rechtsextremismus vor Ort los sei und ihr bis dato der Einblick dazu noch fehlte. Auf keinen Fall wolle sie die Naziideologie tolerieren, machte sie deutlich. Lebhaft erinnerte sie sich noch an ihr erstes Blockadetraining vor der Neonazidemonstration im Juni 2011. „So stolz“ war sie dann, als viele BürgerInnen und MitstreiterInnen zum Protest gegen Neonazis zusammenkamen. Die Anwesenheit der vielen und unterschiedlichen Menschen zur Bündnisgründung „macht mir auch Mut, diesen Weg weiterzugehen“, so Dr. Kaaden. „Demokratie muss man üben“, stellte sie nachdenklich fest und betonte, dass es nicht genüge, einmal im Jahr zu einer Anti-Nazidemonstration zu gehen, es gäbe genügend Anlässe im Alltag, bei denen es notwendig ist, Stellung zu beziehen.

Während Dr. Albrecht Schröter sich unmissverständlich für ein NPD-Verbot aussprach, um keine Plattform für neonazistische Ideologien aus Steuergeldern zu finanzieren, hielt Sebastian Striegel das Thema aus lokaler Perspektive für weniger aktuell. Der NPD-Vertreter im hiesigen Kreistag hatte jüngst sein Mandat zurückgegeben und die lokale Neonaziszene wirke zumeist „führerlos“. Wichtiger fand Striegel hingegen die Unterstützung nicht-rechter Jugendlicher, wie die Initiative Alternatives Merseburg, die vor Ort nach Räumlichkeiten suche, wo man sich als Jugendlicher entfalten und auch Demokratie ausprobieren könne.

„Nazis sind unter uns. Mit dem bloßen Spruch: ‚Nazis raus!‘ kommen wir da nicht weiter“, so Sebastian Striegel grübelnd. Wie an der Stelle weiter zu kommen ist, bleibt die spannende Frage. Was allerdings klar zu sein scheint: In diesem Jahr wird es anlässlich des 17. Juni 1953 keine Demonstration der Neonazis in Merseburg geben. Nach lauthalsen Ankündigungen der Neonazis seit der Vorjahres-Demo folgte bisher keine Anmeldung und die Terminankündigung der Neonazigruppe „AG Merseburg“ wurde im Internet kürzlich kommentarlos gestrichen.

Dass Protest gegen Neonazis nicht alleiniger Zweck des neu gegründeten Bündnisses gegen Rechts sein solle, waren sich die Anwesenden einig. Auch diskriminierende Tendenzen in staatlichen Institutionen oder die Lagerunterbringung von Flüchtlingen in Krumpa (Saalekreis) könnten zum Thema werden. Neben der symbolischen Mitgestaltungswand unter dem Motto: „Entschieden für Demokratie, weil…“, die zur Abgabe individueller Statements anregte, nahm das Bündnis für seine zukünftige Arbeit noch einige Ideen und Anregungen von den Anwesenden mit. „Wir machen uns nicht auf den Weg, wir sind auf dem Weg“, beendete die Moderatorin Christiane Kellner (Superintendentin Kirchenkreis Merseburg) begeistert die Podiumsdiskussion.

 

Koordinierungsstelle LAP Saalekreis | Mai 2012

 
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